... mehrere Sprachen verstehen
und sprechen zu können
... stärkere
und schwächere
Sprachen zu sprechen
... Sprachen miteinander zu
vermischen
... in mehreren Sprachen zu denken und
zu fühlen
... eine Vielfalt von Gestik, Mimik und Sprachmelodie zu verwenden
... sich in unterschiedlichen Sprachkulturen
zu bewegen
... keine Überforderung
... begleitet von
unterschiedlichen Rahmenbedingungen
... Voraussetzung für
Handlungsfähigkeit
... eine Ressource
... in Europa zur Normalität
geworden – im Bildungssystem
dagegen nicht
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... mehrere Sprachen verstehen und sprechen zu können
Mehrsprachigkeit
bedeutet, zwei oder mehr Sprachen verstehen und sprechen zu
können. Wie sich
dieses „Verstehen und Sprechen“ gestaltet, kann individuell sehr
unterschiedlich sein. Es hängt von den äußeren Rahmenbedingungen
ab, unter denen sich ein mehrsprachiger Mensch entwickelt und davon, wie er selbst mit seinen
Sprachen umgeht.
Es gibt
verschiedene Meinungen darüber, ab welchem Grad des Verstehens und des
Sprechens ein Mensch als zwei- oder mehrsprachig zu bezeichnen ist. Mehrsprachige
selbst sagen oft, dass Mehrsprachigkeit für sie bedeutet, in mehr als einer
Sprache zu denken und zu fühlen.
Auch die
Frage, wie die Sprachen „innerhalb“ der Person organisiert sind,
wird kontrovers diskutiert. Einsprachige haben häufig die Vorstellung,
dass die Sprachen eines mehrsprachigen Menschen gänzlich voneinander
getrennt sind und sich gegenseitig nicht beeinflussen (dürfen).
Dem
Empfinden vieler Mehrsprachiger entspricht dagegen das Modell des
„Sprachkontaktes“, nach dem es ganz natürlich ist, dass die Sprachen
„innerhalb“ der Person miteinander in Kontakt treten. Dies kann sich
darin äußern, dass die Person in zwei oder mehr Sprachen
denkt oder die
Sprachen vermischt.
Derartige Phänomene mögen gemessen an den Regeln von nur einer Sprache falsch oder
unzulässig sein – für mehrsprachige Menschen sind sie Ausdruck eines
lebendigen Umgangs mit ihren vielfältigen sprachlichen Mitteln.
Weitergeführt
wird die Idee des "Sprachkontaktes" in der "Quersprachigkeit" oder
"Translanguaging". Diese Konzepte nehmen nicht länger Sprachen
als Regelsysteme in den Blick, sondern die mehrsprachigen Praktiken der
Menschen selber: Diese zeugen deutlich davon, dass sich die Sprachen
Mehrsprachiger kaum voneinander abgrenzen lassen.
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... stärkere und schwächere Sprachen zu sprechen
Die
sprachliche Kompetenz mehrsprachiger Menschen setzt sich
natürlicherweise aus mehreren Sprachen zusammen. Betrachtet man diese
Sprachen einzeln, zeigt sich, dass sie selten gleich stark ausgebildet
sind. Welche Sprache stark und welche schwächer ist, kann von
unterschiedlichen Faktoren abhängen und sich daher im Laufe des Lebens
eines Mehrsprachigen stetig verändern.
-
Lebensalter
Die Sprachen mehrsprachig aufwachsender Kinder entwickeln sich
bisweilen in recht unterschiedlichem Tempo. Es ist möglich, dass ein
Kind in den ersten Lebensjahren zwar zwei oder mehr Sprachen versteht, aber nur
eine aktiv gebraucht – dies wäre dann die stärkere Sprache.
-
Sprachverteilung in der Familie
In den ersten Lebensjahren hängt die Gewichtung starke / schwache
Sprache im Wesentlichen von der Sprachverteilung innerhalb der Familie
ab: Welche Sprache(n) spricht der Vater, welche die Mutter mit dem Kind?
Wer verbringt mehr Zeit mit ihm? Welche Sprache(n) sprechen Geschwister
untereinander?
-
Land, in dem die Person lebt
Häufig ist die Landesprache besser ausgebildet als die
Nichtumgebungssprache, denn sie wird öfter und in den
unterschiedlichsten Situationen gehört und verwendet. Lebt also ein
deutsch-griechischsprachiges Kind in Deutschland, ist wahrscheinlich
die deutsche Sprache stärker, hält es sich in Griechenland auf, wird es
die griechische Sprache sein.
-
Aktuelle sprachliche
Kontakte
Es ist denkbar, dass eine griechisch-deutschsprachige
Person in Deutschland mal mehr, mal weniger Kontakte zu anderen
Griechen pflegt, somit mal mehr und mal weniger Griechisch spricht –
und die griechische Sprache dadurch entsprechend stärker bzw. schwächer
ausgebildet ist. Entscheidend
ist in diesem Zusammenhang natürlich nicht nur die Anzahl der Kontakte,
sondern auch die Bedeutung, die die einzelnen Menschen für die Person
haben.
-
Gesprächsthema
Je
nach Thema wird in den Sprachen ein unterschiedliches
Repertoire an Wörtern vorhanden sein, z.B., weil ein Thema
hauptsächlich in einer Sprache gelernt wurde (z.B. Mathematik auf
Deutsch), oder weil es aus anderen Gründen eng mit einer Sprache
verbunden ist (z.B. könnte ein Gespräch über die Alpen mit der
deutschen, eines über das Mittelmeer mit der griechischen Sprache
verknüpft sein).
-
Sprachliche Ebene
Auch und gerade Gefühle lassen sich in unterschiedlichen
Sprachen auf ganz verschiedene Weisen ausdrücken. Das Liebkosen eines
Babys oder das Verfluchen eines Autofahrers klingt auf Griechisch ganz
anders als auf Deutsch – und fühlt sich auch anders an! Eine Sprache
kann hinsichtlich des Ausdrucks von Gefühlen die stärkere sein, während
die andere gleichzeitig für rationale Überlegungen besser ausgeprägt
ist.
Die Mehrsprachigkeit einer Person ist also etwas Dynamisches: Der
Stellenwert der Sprachen und der Grad ihrer Beherrschung kann sich im
Laufe eines Lebens je nach Umfeld, Vorlieben, Aufenthaltsort etc.
mehrmals verändern.
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... Sprachen miteinander zu vermischen
Sprachmischungen,
d.h. die Verwendung mehrerer Sprachen innerhalb einer Äußerung („Ich
möchte ψωμί (Brot)“) wird von
einsprachigen Menschen manchmal als Zeichen dafür angesehen, dass die
mehrsprachige Person keine ihrer Sprachen richtig beherrscht. Bei genauerer
Betrachtung zeigt sich jedoch:
-
Kinder,
die von Geburt
an mehrsprachig aufwachsen, mischen die Sprachen, weil sie über wenig
Äquivalente in den einzelnen Sprachen verfügen. Anders ausgedrückt: Sie
erwerben zunächst einen übergreifenden Wortschatz, der sich aus Wörtern
zweier oder mehrerer Sprachen zusammensetzt. Es ist denkbar, dass das
griechische
Wort für „Brot“ bereits erworben wurde – weil die griechische Mutter es
häufig verwendet – das deutsche aber noch nicht. Zudem wird kleinen
Kindern erst mit der Zeit bewusst, dass sie nicht nur eine Sprache
erwerben.
Sprachmischungen stellen also bei Kindern eine ganz normale
Sprachentwicklungsphase dar – schätzungsweise zwei Drittel der Kinder
durchlaufen sie. Sie werden deshalb auch „naive (=kindliche)
Sprachmischung“ genannt.
Sprachen in Kontakt
-
Mehrsprachige
Jugendliche und Erwachsene vermischen ihre Sprachen, weil bestimmte
Begriffe nur in der einen Sprache existieren, oder weil sich manches in
einer der Sprachen besser ausdrücken lässt als in der anderen,
oder weil ganz einfach das Wort in der einen Sprache als erstes präsent
ist. Sie vermeiden dies jedoch, wenn sie sich mit einsprachigen Menschen
unterhalten! Nur im Gespräch mit Menschen, die dieselben Sprachen spricht, wie man selbst, ist dies
möglich. Ein Gespräch Mehrsprachiger untereinander ist sehr lebendig,
da alle Sprachmittel eingesetzt werden können – im Gespräch mit
Einsprachigen dagegen nur ein Teil.
-
Probleme können
allerdings entstehen, wenn eine Person mit anderen Mehrsprachigen
ausschließlich in einer Mischsprache kommuniziert, weil sie sich daran
gewöhnen wird. Im Kontakt mit Einsprachigen fällt es ihr dann schwer,
sich nur auf eine Sprache zu beschränken.
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... in mehreren Sprachen zu denken und zu fühlen
Menschen,
die von Geburt an mit mehr als einer Sprachen aufgewachsen sind oder
später eine weitere Sprache sehr intensiv erworben haben, denken auch
in verschiedenen
Sprachen – abwechselnd in der einen und der anderen, meistens gemischt.
Anders als im Gespräch muss man sich in Gedanken nicht nach den
Sprachkenntnissen eines anderen Menschen richten ... oder darum, was
andere denken, wenn man eine Sprache spricht, die sie nicht verstehen
... und kann alle sprachlichen Mittel, die einem zur Verfügung stehen,
nach Lust und Laune einsetzen.
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Sprache
besteht neben Wörtern auch aus Gestik, Mimik und Melodie. Das ist
besonders im Umgang mit kleinen Kindern von Bedeutung, denn für sie
sind diese nonverbalen Elemente in der Kommunikation viel wichtiger als
für Erwachsene. Sprachen unterscheiden sich untereinander hinsichtlich
-
Des grundsätzlichen
Gebrauchs von Gestik, Mimik, Melodie: In manchen Sprachen – z.B. in der
deutschen – ist die Gestik eher verhalten, die Satzmelodie relativ
monoton. In anderen – z.B. im Griechischen – ist die Gestik ein
wichtiger Bestandteil der Kommunikation: Fakinos
(1991: 96), selbst Grieche, schreibt: „Gesten begleiten nicht
nur das gesprochene Wort, sie unterstreichen es, ergänzen es und
ersetzen es häufig sogar. In manchen Fällen ist ihre Ausdruckskraft
dazu geeignet, das daneben gesprochene Wort als arm, überholt, ja
unnütz erscheinen zu lassen. Im Bewusstsein ihrer Unterlegenheit laufen
die Sätze den Gesten hinterher, ohnmächtig, verschüchtert, ergeben.“
Auch die Melodie im Griechischen ist – wie in vielen anderen Sprachen auch – wesentlich lebhafter als im Deutschen.
-
Der Bedeutung einzelner
Gesten. Diese kann je nach Sprache unterschiedlich sein.
Bei mehrsprachigen Menschen kann man beobachten, dass sie mit Wechsel der
Sprachen durch Übernahme der verschiedenen Gesten und Melodien auch
ihren gesamten Habitus ändern. Sie wirken dann „wie ein anderer Mensch“
– und fühlen sich oft auch so...
Es gibt
Hinweise darauf, dass das Aufwachsen mit zwei Systemen von Gestik,
Mimik und Melodie die Entwicklung einer erhöhten Sensibilität für
nonverbale Kommunikation unterstützt (Leist,
1996).
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... sich
in unterschiedlichen Sprachkulturen zu bewegen
Man stelle
sich vor, ein kleines Kind zeigt auf einen korpulenten Mann und sagt
laut: „Der ist aber dick!“ Das Kind hat sich sowohl der Wortwahl und
Grammatik als auch der Gestik korrekt bedient – und wird dennoch kein
Lob für seine Äußerung erhalten, denn: Neben Worten, Gestik und Mimik
sind in zwischenmenschlicher Kommunikation auch sprachkulturelle
Konventionen von Bedeutung: Was darf man sagen, und was nicht? Wie
grüßt man sich unter welchen kulturellen und kontextuellen Umständen
(z.B. die Beziehung der Gesprächspartner zueinander betreffend, oder
den Anlass ihrer Kommunikation)? Wie nahe kommt man seinem Gegenüber im
Gespräch?
Die
Antworten auf diese Fragen fallen je nach sprachkulturellem Hintergrund
unterschiedlich aus. Kinder, die von Geburt an mehrsprachig aufwachsen,
erwerben also nicht nur mehrere Verbalsprachen, und mehrere Systeme von
Gestik und Mimik, sondern auch mehrere u.U. sehr unterschiedliche Systeme
von Konventionen. Die frühe Erfahrung mit diesen unterstützt die
Entwicklung einer Sensibilität für Konventionen und nonverbales –
Fähigkeiten, die in der interkulturellen Kommunikation und damit für
ein Leben in Europa von großer Bedeutung sind.
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... keine
Überforderung
In den 60er
Jahren war die Meinung verbreitet, dass Zweisprachigkeit eine
Überforderung sei: Der Erwerb zweier Sprachen belaste das Gehirn
zuungunsten anderer kognitiver Leistungen und könne gar zu
Schizophrenie führen. Diesen Vorurteilen zugrunde lag zum einen die
Vorstellung, dass Sprache – Nation – Weltbild unmittelbar miteinander
verknüpft sind, und ein Mensch mit zwei Sprachen auch zwei u.U. sich
widersprechende Weltbilder erwirbt. Zum anderen ergaben
Intelligenztests bei zweisprachigen Kindern niedrigere Werte als bei
einsprachigen. Diese Untersuchungen waren jedoch forschungsmethodisch
höchst undifferenziert – die Vergleichsgruppen waren z.B. hinsichtlich
sozialer Faktoren einander nicht angeglichen – und es wurde nicht klar
definiert, ab wann ein Kind überhaupt als zweisprachig zu bezeichnen
ist.
Nachfolgende
Untersuchungen zeigten andere, gegenteilige Resultate. Zum Teil
erzielten zweisprachige Kinder hier höhere Intelligenzwerte, als
einsprachige. Die Aussagekraft von Intelligenztests generell muss aber
kritisch gesehen werden. Als sicher gilt aber, dass der Erwerb mehrerer
Sprachen ein höheres Sprachbewusstsein hervorruft, welches letztendlich
auch die Fähigkeit zum abstrakten Denken unterstützen kann.
Es gibt
keinerlei wissenschaftliche Beweise dafür, dass Kinder durch den Erwerb
von zwei oder drei Sprachen überfordert sind, im Gegenteil. Aber: Sehr wohl
können die Rahmenbedingungen die den Erwerb der Sprachen begleiten, ein
Kind überfordern!
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... begleitet von
unterschiedlichen Rahmenbedingungen
Diese sind
vielfältig und individuell sehr unterschiedlich:
-
Ort des Spracherwerbs
Wächst das Kind einer einsprachigen Umgebung auf, oder in einem
mehrsprachigen Land (z.B. Luxemburg), in dem Zwei/Mehrsprachigkeit
selbstverständlich im Alltag gelebt und im Bildungssystem gefördert
wird?
-
Zeitpunkt und Art
des Spracherwerbs
Erwirbt
das Kind zwei oder mehr Sprachen gleichzeitig von Geburt
an auf spielerische Weise (natürlicher Erwerb) oder wächst es zunächst
mit einer Sprache auf, und erlernt eine zweite durch gezielte
Vermittlung in einem Sprachunterricht (gelenkter Erwerb)? Während sich
der natürliche Erwerb kleiner Kinder tatsächlich spielerisch, intuitiv
und zunächst ohne spürbare Anstrengung vollzieht, geht der gelenkte
Erwerb mit bewusstem Lernen (z.B. von Vokabeln, Grammatik) einher. Eine
Altersgrenze für den Erwerb einer weiteren Sprache gibt es nicht, aber
die bewusste Anstrengung, die ein Mensch dafür aufbringen muss, wird
mit zunehmendem Alter immer größer. Insbesondere die Aussprache einer
Sprache ist für einen Erwachsenen schwer zu erwerben, denn sie
entwickelt sich bereits innerhalb der ersten Lebensmonate!
-
Spracherziehungsmethode
Welchen Stellenwert hat Sprache grundsätzlich innerhalb der Familie?
Sprechen die Eltern viel mit ihren Kindern – schaffen sie eine
sprachanregende Umgebung? (Zu kindlichen Spracherwerbsprozessen und
deren Unterstützung s. ausführlich:
www.sprachfoerderung.info).
Wer spricht mit dem Kind welche Sprache? Das hängt von den
Muttersprachen der Eltern ab. Ist die Muttersprache beider Elternteile
eine Nichtumgebungssprache (z.B. Griechisch in Deutschland) wird ihr
Kind die Sprache der Eltern als Familiensprache, die Sprache des Landes
als Umgebungssprache erwerben. Haben die Eltern unterschiedliche
Muttersprachen, wird meist die Methode „eine Person – eine Sprache“
angewandt, nach der Mutter und Vater jeweils ihre Sprache mit dem Kind
sprechen. Dies erscheint auf den ersten Blick einfach, ist jedoch
besonders für die Mütter oder Väter, die die Nichtumgebungssprache in
der Familie vertreten, häufig mit Schwierigkeiten verbunden: Einerseits
sind sie von der Sinnhaftigkeit der Methode überzeugt und bemühen sich,
mit ihrem Kind konsequent nur die Nichtumgebungssprache zu sprechen.
Andererseits erleben sie, dass sie – oft unbewusst und ungewollt – in
zahlreichen Situationen in die Umgebungssprache wechseln, so z.B. in
Anwesenheit von Personen, die die Nichtumgebungssprache nicht
verstehen, oder dann, wenn das Kind selbst die Verwendung der
Nichtumgebungssprache verweigert.
Die
Abweichung von ihrem eigentlichen Willen, ihre Muttersprachen mit ihrem
Kind zu sprechen, zieht oft das Gefühl von Unzufriedenheit und sogar
Schuld nach sich. Manche
Eltern geben irgendwann auf, weil ihnen der Druck "ich müsste doch
eigentlich konsequent sein, schaffe es aber nicht" zu groß wird. Wieder
andere versuchen es erst gar nicht.
Daher ist es wichtig, dass Eltern sich von Anfang darüber im Klaren
sind, dass es immer Ausnahmen geben wird, dass die Mischung der
Sprachen natürlicher Ausdruck gelebter Mehrsprachigkeit ist. Und es
gilt, bewusste Entscheidungen über das eigene
Sprachverhalten zu treffen, und dabei Kompromisse zwischen Anspruch und
praktikabler Umsetzung zu finden.
Mehrsprachige Entwicklung
Mehrsprachige Erziehung
Empfehlungen für Eltern
Auch geringe Sprachkenntnisse des Ehepartners führen in
den meisten Fällen zu Inkonsequenz:
-
Sprachkenntnisse der
Eltern
Verstehen und sprechen beide Elternteile die Sprache(n) des anderen? In
einer griechisch-deutschen Familie, in der die griechische Mutter zwar
Deutsch, der Vater aber kein Griechisch versteht, wird die Mutter immer
übersetzen müssen, was sie zu ihrem Kind gesagt hat. Dies ist auf die
Dauer sehr mühsam und es ist gut möglich, dass sich die Mutter mit der
Zeit immer öfter direkt in der deutschen Sprache an das Kind wendet. So
verliert die griechische Sprache an Bedeutung.
-
Soziales Netzwerk
Ein soziales Netzwerk im soziologischen Sinne umfasst die Sozialkontakte einer Person. Diese
bestehen zum Teil aus Beziehungen, die durch Rollen festgeschrieben
sind – z.B. Verwandte, Nachbarn. Andere – z.B. Ehepartner, Freunde,
Bekannte – werden in das Netzwerk einer Person durch diese selbst
hinein gewählt.
Befinden sich in den sozialen Netzwerken von Eltern und Kind viele
Menschen, die selbst mehrsprachig sind oder die selbst die
Nichtumgebungssprache sprechen? Sie spielen eine wichtige Rolle im
Prozess der mehrsprachigen Entwicklung und Erziehung, weil das Kind durch
sie auch außerhalb der Familie Gelegenheiten hat, Nichtumgebungssprache(n) zu hören und zu sprechen. Zudem bieten sie den
Eltern die Möglichkeit, sich über Prozesse frühkindlicher Mehrsprachigkeit auszutauschen und Rat einzuholen.
Kontakte & Austausch
Neben der sprachlichen Zusammensetzung können positive Einstellungen
des sozialen Netzwerkes gegenüber Mehrsprachigkeit und der jeweiligen
Nichtumgebungssprache eine unterstützende Wirkung haben.
Einstellungen pädagogischer Fachkräfte
Mehrsprachigkeit im
sozialen Kontext
Mehrsprachige Entwicklung
Mehrsprachige Erziehung
Einstellungen hängen eng zusammen mit dem Prestige
einer Sprache:
-
Prestige der Sprachen
Erwirbt das Kind Sprachen, die ein hohes Ansehen
genießen? Das Prestige einer Sprache wird geprägt durch den Grad ihrer
Standardisierung, durch ihre Verbreitung in der Welt und durch ihre
ökonomische, religiöse oder kulturelle Bedeutung. Innerhalb einer
Gesellschaft spiegelt sich das herrschende Sprachprestige in
Einstellungen und in der Förderung der Sprache im Bildungssystem. So
erlebten in der hier zitierten Studie
98% der deutschen Mütter in Griechenland eine ausdrückliche
Wertschätzung ihrer Muttersprache („Ah, Ihr Kind lernt Deutsch! Das ist
aber toll!“), griechische Mütter in Deutschland dagegen nur zu 68%. Sie
erfuhren mit 43% eine ablehnende Haltung („Was soll das Kind denn mit
Griechisch?“) – deutsche Mütter in Griechenland nur zu 18%.
-
Institutionelle
Unterstützung
Werden
alle Sprachen des Kindes im
Bildungssystem gefördert? Hat ein griechisch-deutsch aufwachsendes Kind
die Möglichkeit, eine griechisch-deutsche Kindertagesstätte und Schule
zu besuchen? Wird Mehrsprachigkeit generell in der Einrichtung
wertgeschätzt und unterstützt? Nur so kann langfristig die ausgewogene
Entwicklung seiner
Sprachen gewährleistet werden.
Mehrsprachigkeit im
Bildungssystem
Einstellungen pädagogischer Fachkräfte
Der Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen von
Geburt an stellt als solcher keine Überforderung für ein Kind dar.
Jedoch können ungünstige Rahmenbedingungen ein mehrsprachig
aufwachsendes Kind in der Tat überfordern – z.B. ein generell
spracharmes Umfeld; häufig wechselnde Erziehungsmethoden; geringe
Kompetenzen der Eltern in der Sprache, die nicht ihre Muttersprache
ist; wenig Kontakte zu anderen Personen, die alle Sprachen des Kindes sprechen; ein negativ eingestelltes Umfeld; ein geringes
Sprachprestige; fehlende institutionelle Unterstützung.
Mehrsprachige Entwicklung
Mehrsprachige Erziehung
Insgesamt zeigt sich: Die Mehrsprachigkeit gibt es nicht, vielmehr eine Vielzahl
unterschiedlicher Bedingungen, unter denen Kinder mehrsprachig
aufwachsen. Eltern sollten sich diese bewusst machen, wenn sie
Entscheidungen über die mehrsprachige Erziehung ihres Kindes treffen
möchten.
Empfehlungen für Eltern
Erzieher/innen
sollten dem Umgang mit mehrsprachigen Kindern und in der Beratung der
Eltern eine individuumsbezogene Sichtweise zugrunde legen.
Empfehlungen für pädagogische Fachkräfte
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...Voraussetzung für Handlungsfähigkeit
Ein Kind,
das (aus welchen Gründen auch immer) in einer zwei- oder mehrsprachigen Lebenswelt
aufwächst, braucht all seine Sprachen, um handlungsfähig zu sein und partizipieren zu können. Dies wird in
Diskussionen um Mehrsprachigkeit leider häufig übersehen.
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... eine
Ressource
Zwei oder
mehr Sprachen fließend sprechen zu können, das ist im heutigen Europa
eine individuelle und gesellschaftliche Ressource. Je mehr Sprachen ein
Mensch spricht, desto mehr Zugänge zu den einzelnen Ländern eröffnen
sich ihm. Aber auch unabhängig von den konkreten Sprachen erwerben
Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, interkulturelle
Kommunikationskompetenz: Sie lernen von Geburt an einen
selbstverständlichen Umgang mit verschiedenen Sprachgruppen.
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... in Europa zur
Normalität geworden – im Bildungssystem dagegen nicht
Frühkindliche Mehrsprachigkeit stellt im vereinten Europa längst keine Ausnahme mehr
dar. Durch flexible Wahl des Arbeitsortes, wirtschaftliche
Kooperationen über nationale Grenzen hinweg, Wanderungsbewegungen und
durch Angehörige der zweiten und dritten Einwanderergeneration kommt es
mit stetig steigender Tendenz dazu, dass Ehen zwischen Menschen
unterschiedlicher Muttersprache geschlossen werden: In Deutschland
waren im Jahr 1991 3% aller Ehen mit Kindern unter 18 Jahren
binational, 2001 waren es bereits 4,5%, 2004 6%, 2017
9% und 2022 10%.
Im Jahr 2022 wurden 11% aller Ehen in Deutschland
zwischen Partnern deutscher und nicht-deutscher Herkunft geschlossen.
In 3 % aller
Eheschließungen waren beide Partner nicht-deutscher Herkunft.
So
entstehen immer häufiger mehrsprachige Umwelten, in die Kinder
hineingeboren, in denen sie sich entwickeln und in denen sie
sozialisiert werden. Im Jahr 2022 wuchsen allein in Deutschland
1494.000 Kinder in binationalen Familien auf, das sind 10,6% aller
Kinder
unter 18 Jahren.*
Betrachtet man allein
die unter Sechsjährigen, so sind es 12%, die 2022 in diesem für den
Spracherwerb entscheidenden Alter in binationalen Familien aufwuchsen.
Hinzu kommen 21% in Familien mit zwei Partnern nicht-deutscher
Herkunft. Insgesamt wuchsen somit im Jahr 2022 33% aller unter
sechsjährigen Kinder in Deutschland potentiell zwei- bzw. mehrsprachig auf (Alle
Daten: Statistisches
Bundesamt,
2023).*
*In
Wahrheit
sind diese Zahlen höher, da hier als Kriterium die
Staatsangehörigkeit zugrunde gelegt ist. Diejenigen Familien, in denen
Eltern
die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben, sind also nicht
erfasst, ebensowenig diejenigen
Kinder, die nicht bei Ehepaaren leben. Beachtet werden muss auch, dass
"Ehepaare" als "in einem gemeinsamen Haushalt lebend" definiert sind.
Geflüchtete sind daher unterrepräsentiert, da hier die Familien oftmals
nicht zusammen leben oder in einer Gemeinschaftsunterkunft.
Eine
logische Konsequenz wäre nun, auch das Bildungssystem stärker
mehrsprachig auszurichten, um mehrsprachig aufwachsende Kinder adäquat
und effektiv in ihrer Gesamtentwicklung fördern zu können. Obwohl es
vereinzelt zweisprachige Kindergärten und Schulen gibt, setzte sich
dieses Modell nicht durch: Nur die Sprachen, denen ein hohes Prestige
(Englisch, Französisch) zugeschrieben wird, sind im Bildungssystem wie
selbstverständlich vertreten. So kommt es zu dem Paradoxon, dass die
Sprachkenntnisse von Kindern, die bereits mehrsprachig sind, wenn sie
in die Kindertagesstätte kommen, nicht systematisch gefördert werden und
u.U. mit der Zeit verkümmern. Gleichzeitig müssen sich alle Kinder
darum bemühen, eine Fremdsprache zu lernen.
Mehrsprachigkeit im
Bildungssystem
Einstellungen pädagogischer Fachkräfte
top
